Die Koalitionsparteien SPD, Grüne und FDP haben sich der Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem „europäischen Bundesstaat“ verschrieben. Ein sehr ehrgeiziges Ziel für heute. Keine andere europäische Regierung ist in ihrem Koalitionsvertrag so weit gegangen wie Deutschland.
Hohe Visionen für die Zukunft der Europäischen Union haben eine lange Tradition. Bereits in den Römischen Verträgen von 1957 war die Rede von „einem starken Willen, die Grundlagen für eine immer engere Einheit der Völker Europas zu legen“. Auch der Lissabon-Vertrag von 2009 forderte „zunehmende Einheit“. Jacques Delors, Präsident der Europäischen Kommission von 1985-1995, war der Meinung, dass Europa weiter in Richtung Integration gehen sollte, und verglich es mit Fahrrädern. Halte ihn auf und er wird fallen.
Heutzutage hört man selten ein so volles Bekenntnis zur europäischen Integration. Dagegen war der Austritt Großbritanniens vor zwei Jahren der bislang stärkste Widerstand.
Das Ende einer großen Vision
Aber nicht nur Großbritannien ist euroskeptisch. Im März 2018 sagte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte in Berlin: „Es gibt ein Narrativ über die Unvermeidlichkeit einer engeren Zusammenarbeit in einem europäischen Bundesstaat. Ich mag diese schreckliche Sprache über eine nahende Gewerkschaft nicht“. Rutte sprach von einer „romantischen“ Vision politischer Einheit, die er nicht verwirklichen wolle.
Selbst der ehemalige Präsident des Europarates, Donald Tusk, sagte 2016 bei einem europäischen Wirtschaftstreffen: „Es ist nicht die richtige Antwort auf unser Problem, eine lustige und eigentlich naive europäisch-begeisterte Vision einer totalen Integration voranzutreiben, egal wie gut gemeint ihre Unterstützer sein mögen.“ Erstens, weil es unmöglich ist, und zweitens, weil die Förderung dieser Vision paradoxerweise nur dazu dient, die euroskeptische Stimmung zu verstärken, nicht nur in Großbritannien.“
Die einst proeuropäisch eingestellten Niederlande und Frankreich lehnen seit 2005 in Volksabstimmungen die Europäische Verfassung ab. Dies ist ein Signal dafür, dass eine stärkere Integration nicht mehr den Wünschen der Mehrheit in ihren Ländern entspricht. Auch einige rechtspopulistische Regierungen oder Koalitionen mit ihnen, etwa in Ungarn und Polen, haben die Idee abgelehnt.
Europäischer Bundesrat „will fast niemand“
Deshalb sind die Regelungen im Koalitionsvertrag zu einem europäischen Bundesstaat mutig. Der Politologe Johannes Varwick von der Universität Halle resümierte in einem DW-Interview: – Wenn die Regierungsparteien wirklich daran glauben würden, würde es angesichts der europäischen politischen Realitäten nicht schnell funktionieren. Tatsächlich will das niemand in Europa.
Das Brexit-Votum war die Hauptinspiration für Anwalt Daniel Roeder, die Bürgerinitiative Pulse of Europe zu gründen, die der Idee von Europa eine neue Dimension verleihen möchte, nicht durch Politiker und Beamte, sondern durch einfache Bürger. Roeder sagte der DW, er sei überrascht, im Koalitionsvertrag ein Bundesland zu finden.
Niemand musste ihn von einem weiteren Sinn für Integration überzeugen. – Als wir erkannten, dass wir die großen Probleme nicht lösen konnten, nämlich Klimawandel, Migration, Pandemien, Konflikt mit Russland usw. Als ein einziger Nationalstaat wollen wir nicht alles China oder den USA überlassen, wir brauchen eine weitere europäische Integration – sagte Roeder. Aber den europäischen Bundesstaat, so sagt er, müsse man sich nicht unbedingt erkämpfen.
Europa oder Land, je nach Thema
In einigen Bereichen ist die EU sehr nah an den Bundesstaat herangerückt, etwa durch einen gemeinsamen Binnenmarkt oder im Außenhandel. In anderen Regionen hingegen haben Staaten ihre Souveränität nicht aufgegeben und sind bestenfalls bereit, sich abzustimmen und miteinander zu kooperieren.
Das wird im Kampf gegen die Pandemie noch einmal sehr deutlich: Gesundheitspolitik ist eine nationale Angelegenheit, die manche beklagen, manche begrüßen. Andererseits hat die EU einen riesigen Co-Hilfe-Fonds geschaffen, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Beschränkungen abzumildern.
Gleichzeitig zeigt dieser Fonds, wie umstritten das gemeinsame Projekt sein kann. Gerade beim Thema Geld stellt sich die Frage: Wer zahlt, wer profitiert? In reichen EU-Ländern taucht regelmäßig das Gespenst der Transferunionen auf, also der finanziellen Unterstützung ärmerer Länder. Allein dies hat bisher die Idee eines föderalen Europas von vornherein zerstreut.
Das „Henne-Ei-Problem“.
Johannes Varwick räumt bei aller Skepsis gegenüber der Idee eines Bundesstaates ein, dass man diese Vision nicht ganz aufgeben sollte. Andererseits sieht Daniel Roeder von Puls Europe kein Bedürfnis nach einem langfristigen Ziel eines europäischen Bundesstaates. Er glaubte jedoch, dass dies ohne Weiterentwicklung nicht möglich sei.
Roeder glaubt, die EU sei mittlerweile ein „fragiles Gebilde, das nur noch bedingt handlungsfähig ist“. Nur wenn die EU im globalen Machtspiel eine wirksamere Rolle spielen kann, wird ihre Akzeptanz nach innen und außen steigen. , was zuerst kommt – das Huhn oder das Ei – Ohne Akzeptanz (Europäische Integration) keine Weiterentwicklung und ohne Weiterentwicklung keine Akzeptanz Dieses Dilemma müssen wir überwinden, sonst befürchte ich Schlimmes für die Union.
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