Aus deutscher Sicht Emmanuel Macrons „neue Methode“

Französische Nationalversammlung

Pol 2004/Wikipedia

Bei der Analyse der Ergebnisse vom 19. Juni und ihrer Bedeutung für Europa, insbesondere für die deutsch-französischen Beziehungen, ist es sinnvoll, drei Reflexionsebenen zu unterscheiden, die zwar miteinander in Beziehung stehen, aber jede davon wert ist bestimmte Ansicht. Es gibt eine europäische Ebene, auf der wir eine gewisse Auswirkung feststellen werden, ohne dass wir uns ihrer Größenordnung sicher sein können. Es gibt eine bilaterale Ebene, auf der politische und historische Befindlichkeiten weiterhin eine besondere Rolle spielen. Und es gibt natürlich eine nationale Ebene, wo die politischen Kräfte mit einer beispiellosen Situation konfrontiert sind – es gibt keine Mehrheit, weder für den republikanischen Präsidenten noch für die Gegenseite, weil die Gegenkräfte – die Linke und die extreme Rechte – einander gegenüberstehen. Daher kein gutes Zusammenleben, da die Präsidenten der Republik, Francois Mitterrand und Jacques Chirac, sich einer kohärenten Mehrheit auf der Gegenseite gegenübersahen. Eine „neue Methode“ war eindeutig erforderlich. Aber wie kann es sich schnell genug und effizient genug entwickeln?

Ein Land wie kein anderes in Europa

Auf europäischer Ebene ist anzumerken, dass es heutzutage sehr selten vorkommt, dass ein Regierungschef allein über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt. In dieser Hinsicht ist der Fall Frankreich seit langem und insbesondere nach dem Brexit ein ganz besonderer Fall. Französische Präsidenten und ihre Ministerpräsidenten konnten so mit absoluter Mehrheit schnell starke nationale Positionen in europäischen Gremien einnehmen. Dies verschafft ihnen in innereuropäischen Verhandlungen insofern einen Vorteil, als die meisten ihrer Partner in ihrer Koalition immer einen Kompromiss finden müssen, bevor sie ihre Position erreichen. Es wird enden. Dieses Privileg wird es nicht mehr geben. Von nun an wird Frankreich ein Land wie kein anderes sein.

Einerseits war Frankreich „europäisch“. Während Frankreich, insbesondere Präsident Macron, mit visionären Vorschlägen für Europa, auf die sie selten gültige Antworten erhalten, einige sehr beeindruckt, andere alarmiert hat, glauben sie immer noch, dass sie auf dem richtigen Weg sind, dem Zug voraus. Ist es eine Illusion? Wenn ja, wird es auch enden. Vor allem, weil die Zahl der Anti-Europäer im Palais Bourbon deutlich zugenommen hatte. Jetzt verpflichtet, komplizierter gewordene demokratische Verfahren zu respektieren, müssen Macron und sein Team mehr Demut zeigen. Das könnte sogar europäische Partner entlasten, die sich von dieser ambitionierten jungen Führungskraft vielleicht nicht unter Druck gesetzt fühlen würden. Ist es gut für Europa? Niemand weiß.

Bisher hat Jupiters allmächtiger Präsident auf europäischer Ebene keine wirkliche Moderatoren- oder verbindende Rolle gespielt. Mit seinen verfassungsmäßigen Befugnissen, die auf einer absoluten Mehrheit der „politischen Formationen“ in der Versammlung beruhen, provoziert, stört und erzeugt Macron oft Dynamiken, die seinen Partnern nicht immer gefallen. Das Ausmaß, in dem Frankreich weiterhin den Willen und die Fähigkeit demonstrieren kann, dies zu provozieren, gehört dazu und kann sehr nützlich sein. Inwieweit bietet der französische Präsident, der seine parlamentarische Mehrheit verloren hat, weiterhin seine Führung an? Und welche Art von Führung? Diese Frage stellt sich jetzt auf europäischer Ebene.

Deutsches Beispiel

Auf bilateraler Ebene wird es eine Phase der Neugier und Vorsicht zugleich geben. Auf der einen Seite stellen sich jetzt Fragen an Deutschland wie: Koalition, wie geht das? Präsident Macron hat darauf angespielt: Deutschland und Italien hätten es geschafft, eine bunte parlamentarische Mehrheit zu bilden, während sie ihre eigene Koalition beiseite gelegt hätten. Das Koalitionsprinzip scheint jedenfalls in Paris auf Interesse zu stoßen, auch wenn die Worte der politischen Führung seit dem 19. Juni etwas anderes vermuten lassen.

Andererseits wird der Vergleich der jeweiligen politischen Systeme Frankreichs und Deutschlands nicht sehr geschätzt, insbesondere in der Perspektive, das andere als Beispiel zu nehmen, um aus der Sackgasse herauszukommen. Christian Jacob etwa, Chef der Partei „Les Républicains“, sagte, er habe keinen „deutschen Anruf“, um zu erklären, warum er die Idee eines „Regierungspakts“ mit Macronisten ablehnte. Hinweise auf die sogenannte „Ampel“-Koalition in Deutschland haben offenbar nicht die gewünschte Wirkung.

In Deutschland hingegen beobachtet man mit Interesse, wie die Nationalversammlung an politischem Gewicht gewinnen kann. Wird dies der Anfang vom Ende des Präsidialregimes in Frankreich, des „King-Elect“-Regimes, das dem Elysée immer einen institutionellen Vorteil gegenüber der Kanzlerin in Berlin verschafft hat? Und was bedeutet das für die bilaterale Zusammenarbeit, die bislang stark auf exekutives Engagement angewiesen ist? Wie wird eine Zunahme der Zahl antieuropäischer Abgeordneter von RN und NUPES die Dynamik dieser bilateralen Zusammenarbeit verändern? Zum Beispiel auf der Haushaltsebene, wo die Versammlung ein Mitspracherecht hat. Und insbesondere in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (APFA), die sich gerade erst als aktiver Akteur etabliert hat, aber ihre Zusammensetzung erneut geändert hat, zunächst auf der Seite Deutschlands im vergangenen September, jetzt auf der Seite Frankreichs. Will er weiterhin eine aktive und konstruktive Rolle bei der Regierung spielen? Wer wird auf französischer Seite nach der Niederlage von Moselles Stellvertreter Christophe Arend mit der gleichen Hingabe und Energie die Verantwortung übernehmen?

Das Verständnis für die Funktionsweise des politischen Systems der anderen Partei ist weder in Frankreich noch in Deutschland weit verbreitet. Dazu (oder gerade deswegen) gab es in der Hauptstadt schon immer eine gewisse Eifersucht auf den Apparat, jeder stolz darauf, auf den ihm bekannten Grundlagen zu arbeiten – ein starker Präsident mit zentralisierter Verwaltungsstruktur in Paris, eine Koalitionsregierung mit ein starkes Parlament und eine Bundesverwaltung in Berlin Ein von Präsident Macron angekündigter und von der Opposition geforderter „Methodenwechsel“ in Paris weckt nicht nur Neugier, sondern auch Besorgnis, solange wir nicht wissen, was er bedeutet. Auf bilateraler Ebene stehen wir vor einer großen Herausforderung: Seit dem 19. Juni müssen wir sicherstellen, dass die Unsicherheiten und Sorgen, die sich aus der Bundestagswahl ergeben, die Fortsetzung des deutsch-französischen Engagements nicht behindern, die angesichts der mehr denn je wünschenswert ist aktuellen Herausforderungen auf europäischer Ebene, aber auch auf globaler Ebene.

Neue Spielregeln

Auf nationaler Ebene schließlich haben sich die Spielregeln geändert. Das Fehlen einer soliden Mehrheit auf beiden Seiten gibt Minderheiten mehr Macht, für eine gut organisierte Vertretung von Sonderinteressen, für politische Erpressung, um Begriffe zu verwenden, die ihnen nicht gefallen. Die Macht des Präsidenten der Republik ist nicht zu schwer, dass der Präsident der Fraktion erhöht. Gleichzeitig gewinnt der Ministerpräsident, der in Ermangelung einer Paktregierung mit einer gemäßigten Opposition für die Einigung der Mehrheit zuständig ist, an politischem Gewicht. Der Präsident wird sich auf ihn verlassen und nicht umgekehrt. Der Regierungschef ist nicht mehr der „Kollaborateur“ des Präsidenten (gemäß der Formulierung von Präsident Sarkozy, Premierminister Fillon einen „Kollaborateur“ zu nennen). Er war derjenige, der seine Macht regulieren musste. Dies ist eine ganz andere Übung als das Zusammenleben von Premierministern. Die etablierten Gewohnheiten der politischen Welt werden sich ändern.

Der Begriff „Kompromiss“ sollte neu bewertet werden. Es sollte nicht länger als Tatsache der Selbstaufopferung verstanden werden, sondern als Ergebnis des Versuchs, miteinander auszukommen. Politische Feinde dürfen keine Feinde mehr sein, geschweige denn „Volksfeinde“ wie die Propaganda der Extremisten, rechts und links, die leider heute die wichtigste Oppositionskraft sind. Für einen „Methodenwechsel“ auf Dauer – denn so soll es sein – bedarf es eines Kompromisswechsels. Und es braucht Zeit, die die Franzosen nicht haben. Das ist es, die größte Herausforderung. Das haben die Ergebnisse der Parlamentswahlen gezeigt. Frankreich ist nicht das Einzige, das damit zu kämpfen hat.

Senta Esser

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