14:00, 13. September 2022
„Wir leben in einer Zeit des Wandels“, sagte der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz in einer außerordentlichen Bundestagssitzung am 27. Februar 2022 und verwies auf den drei Tage zuvor begonnenen Einmarsch Russlands in die Ukraine. Dieselbe Formel wiederholte er in einer Rede zur allgemeinen Europapolitik, die er am 29. August an der Karls-Universität in Prag hielt. Diese „Zeitenwende“ war für Berlin besonders geprägt von einer neuen Außenpolitik, die sich stärker in internationale Konflikte einmischte, die freilich mit dem Krieg in der Ukraine begannen.
Das Ende der etablierten Tradition der Zurückhaltung
Sollte Zwang denen, die ihn besitzen, erlauben, das Gesetz zu brechen? Darf Russlands Präsident Wladimir Putin in die Ära der Großmächte des 19. Jahrhunderts zurückkehren? Oder „Haben wir die Macht, Kriegführende wie Putin einzuschränken? »fragte Scholz im Februar vor dem Bundestag.
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Im Anschluss an diese rhetorische Frage kündigte der Bundeskanzler die Beteiligung Deutschlands an Waffenlieferungen an die Ukraine an – eine Zusage, die er vor seinem Publikum in Prag bekräftigte – sowie neue Sanktionen gegen Russland und die Stationierung zusätzlicher Truppen an der NATO-Ostflanke. Er kündigte auch an, dass Deutschland seinen Verteidigungshaushalt in den nächsten fünf Jahren um 100 Milliarden Euro erhöhen werde, um der Verpflichtung aller NATO-Staaten nachzukommen, 2 % ihres Haushalts für ihre Militärausgaben auszugeben.
Diese Ankündigungen markierten zweifelsohne einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, da sie mit einer seit der Staatsgründung tief verwurzelten außen- und sicherheitspolitischen Tradition brachen, die teilweise auch vom geeinten Deutschland geteilt wurde. betroffen.
Geister des Zweiten Weltkriegs
Die Außenpolitik der BRD seit 1949 hat immer versucht, Lehren aus ihrer Vergangenheit zu ziehen: der Erinnerung an die außenpolitischen Fehler des Deutschen Reiches und insbesondere die Verbrechen des Dritten Staates.e Das Reich belastete die Haltung des Landes auf der internationalen Bühne schwer. In der Folge hat die BRD in den vergangenen 70 Jahren eine Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt, deren Stichworte Einflussnahme, Einbindung in den Westen, aber auch Zurückhaltung und Distanz zu internationalen Konflikten sind.
Zudem ist diese Politik zumindest bis zur Wiedervereinigung der besonderen Situation – auf geopolitischer, militärischer und psychologischer Ebene – der BRD gut angepasst. Die Bonner Diplomatie war daher immer im „nationalen Interesse“ und hat sich ausgezahlt: Durch die Einbindung in den Westen und konkret in die multilateralen, ja supranationalen Strukturen von EWG/EU und NATO hat Westdeutschland seine Position zurückerobert . Souveränität und ein gewisses internationales Ansehen. Gleichzeitig profitierte es angesichts der sowjetischen Bedrohung von der politischen und militärischen Unterstützung westlicher Verbündeter.
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Die neue „Ostpolitik“ Willy Brandts Anfang der 1970er Jahre ermöglichte es der Bundesrepublik, sich einerseits in die von ihren Verbündeten favorisierte Entspannungspolitik einzugliedern und andererseits einen modus vivendi mit der Sowjetunion und den übrigen Ländern zu finden der Ostblock.
Diese doppelte Ost-West-Politik hinderte die BRD nicht daran, über Jahrzehnte eine große Wirtschaftsmacht zu werden, im Gegenteil: Ihr militärischer „Enthalt“ ermöglichte ihr den Auf- und Ausbau hervorragender Wirtschaftsbeziehungen zu vielen Ländern. auf der ganzen Welt. Darüber hinaus genoss das Land beträchtliche internationale Anerkennung, als sich 1990 die Gelegenheit zur Wiedervereinigung bot.
Trotz neuer Konflikte in Europa (die Kriege im ehemaligen Jugoslawien) und anderswo (zweiter Golfkrieg) einigte sich Deutschland in den folgenden Jahren und enttäuschte seine Verbündeten, einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika, die ihm sogar einen angeboten hatten „partnerschaft in der führung“.
Schüchternes Engagement in den 1990er Jahren
Es dauerte Ende der 1990er Jahre und die Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, 1998-2005), bis Deutschland beschloss, sich an NATO-Luftangriffen gegen Serbien zu beteiligen. Letztlich bleibt dieses militärische Engagement ein Einzelfall und lässt sich nur durch eine fast einzigartige politische Konstellation erklären: Die ehemalige pazifistische Opposition, bestehend aus SPD und Grünen, die an der Regierung ist, weiß, dass ihre politischen Gegner in der CDU sind -CSU und die Liberalen werden sich dieser Entscheidung nicht widersetzen. Vor allem, weil dieses Engagement von den Verbündeten und insbesondere von Amerika stark gefordert wurde.
Auch die deutsche Beteiligung an der Afghanistan-Intervention im Jahr 2001 war das Ergebnis einer bestimmten Situation: Die Anschläge vom 11. September lösten eine weltweite Erschütterung und eine einzigartige Solidarität mit den Vereinigten Staaten aus, der sich die Bundesrepublik nicht entziehen konnte. . Gleichzeitig haben die aufeinanderfolgenden Bundesregierungen unter der Führung von Gerhard Schröder und später Angela Merkel (2005-2021) durch die Beteiligung deutscher Militäreinheiten an der International Security Assistance Force stets die sicherheitspolitischen und zivilen Ziele dieser Mission betont . (ISAF).
Darüber hinaus bestärkt die Erfahrung gescheiterter westlicher Militärinterventionen in Afghanistan, im Irak und anderswo die Überzeugung der meisten Deutschen, dass es besser wäre, im Rahmen der Europäischen Union auf alle militärischen Aktionen, auch unter Einbeziehung von Verbündeten, zu verzichten. oder in der Nato.
Seit den 1990er Jahren hat die Bundeswehr jedoch etwa fünfzig begrenzte Akte in externen Theatern aufgeführt (von denen zehn noch andauern). Auch militärisch ist Deutschland daher international sehr präsent.
Wenn es jedoch sowohl nach innen als auch nach außen gegensätzliche Wahrnehmungen gibt, liegt das daran, dass es sich um ein zahlenmäßig und qualitativ geringeres Engagement im Vergleich zu einigen Verbündeten Deutschlands handelt. Zudem geriet das Engagement der Bundeswehr unter das Radar der öffentlichen Meinung. Bis auf wenige Ausnahmen – etwa wenn der Bundestag einem oder mehreren Einsätzen der Bundeswehr zustimmen muss – führen diese Fragen in Deutschland nicht zu einer wirklichen gesellschaftlichen Debatte, zumal die Bundesregierung kein Interesse daran hat. Diese politisch-militärischen Kulturunterschiede, eine Art „deutsche Ausnahme“, sind zweifellos einer der Gründe, die eine einheitliche Haltung der EU in außen- und sicherheitspolitischen Fragen verhindern.
Beteiligung am russisch-ukrainischen Konflikt
Nach der Besetzung der Krim und der ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk im Jahr 2014 spielte die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des „Normandie-Formats“ neben Frankreich eine zentrale Rolle bei der Vermittlung zwischen den beiden Konfliktparteien. Darüber hinaus unterstützt die Regierung Merkel trotz der enormen Energieabhängigkeit ihres Landes von Russland auch harte Wirtschaftssanktionen gegen Angreifer und beteiligt sich an der Sicherung des Luftraums von Estland, Lettland und Litauen durch die NATO.
Dennoch bleiben die Priorität, die diplomatischen Mitteln eingeräumt wird, und der Wunsch, den Fluss des Dialogs mit Moskau nicht zu verlieren, eine Priorität. Deshalb hat die „Große Koalition“ aus CDU/CSU und SPD das Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2 stets verteidigt, getreu einem der Grundprinzipien der deutschen Ostpolitik: „Wandel durch Handel“ („Wandel durch Händel“). Es bedurfte der russischen Aggression, bis die neue Regierung das Projekt im Februar 2022 endgültig aufgab.
Ob die aktuelle Debatte um „Wendepunkte“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik nachhaltige Auswirkungen auch an der operativen Front haben wird, ist daher schwer abzusehen. Trotz der harschen Worte von Scholz und anderen bei der Bundestagsdebatte am 27. Februar blieben Zweifel, weil die Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine, aber auch nach geeigneten Maßnahmen zur Aufstockung der Bundeswehr eine klare Dissonanz ausräumen musste wurde sogar in der Regierungskoalition gehört.
Wie effektiv ist die angekündigte Hilfe für die Ukraine? Wird der Verteidigungshaushalt tatsächlich und nachhaltig im Einklang mit dem von der NATO vereinbarten prinzipiellen Ziel von 2 % des BIP pro Jahr steigen? Bedeutet die weitverbreitete Verurteilung der russischen Aggression in der deutschen Öffentlichkeit wirklich die nachhaltige Unterstützung eines stärkeren weltpolitischen Engagements der Bundesrepublik Deutschland? Wird die jetzige Bundesregierung die ebenfalls angekündigte Erarbeitung einer nationalen Sicherheitsstrategie nutzen können, um eine neue außen- und sicherheitspolitische Kultur in Deutschland aufzubauen – eine unabdingbare Voraussetzung auch für die von Scholz befürwortete europäische Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik in Prag? Etwas mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben die Deutschen ihre „Weltvergessenheit“ endgültig hinter sich gelassen und sind in einer neuen sicherheitspolitischen Realität angekommen – eine unabdingbare Voraussetzung für die Umsetzung der Vision „Europäische Souveränität“ über die Jahre von Emmanuel Macron propagiert und welcher Kanzler sich auch in Prag zu Eigen gemacht hat?
Seit dem Ende des Bipolarismus sehen wir uns einem zunehmend konfliktreichen und damit zunehmend aggressiven multipolaren System gegenüber, in dem aggressive Akteure die traditionellen diplomatischen Spielregeln nicht mehr respektieren und ihre jeweiligen Interessen einseitig zum Nachteil des anderen durchsetzen wollen zu körperlicher Gewalt. In einer solchen Welt ist der Einsatz von Machtmitteln – politischer, wirtschaftlicher, aber notfalls auch militärischer – zum Zweck der Abschreckung oder notfalls der Durchsetzung von Regeln unabdingbar. Die Dauerhaftigkeit der Rede von Olaf Scholz in „Zeitumstellung“ („Zeitenwende“), sondern auch die zukünftige Rolle der Europäischen Union auf der internationalen Bühne.
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