2021 ist das Jahr der russischen Geheimdienste. In weniger als fünf Monaten sind vier spektakuläre Operationen des russischen Geheimdienstes ans Licht gekommen: In Berlin wurde bekannt, dass Jens F., Elektroingenieur mit Stasi-Vergangenheit, Bundestagspläne an Geheimdienstler der russischen Botschaft verkauft hatte; in Bulgarien wurde ein russisches Spionagenetzwerk um den ehemaligen Militärgeheimdienstoffizier Ilija Iliev aufgedeckt; In Italien wurde Marinekapitän Walter Biot beim Verkauf von militärischen Informationen erwischt. Und in Tschechien identifizierte das Innenministerium einen russischen GRU-Geheimdienstoffizier als Täter der Explosion in der Munitionsfabrik Vrbeticach im Jahr 2014, den gleichen Offizier, der 2015 angeblich zuerst den bulgarischen Waffenhändler Emilian Gebrew und dann Sergei Skripal mit Novichok . vergiftet haben soll im Jahr 2018. Seitdem wird in Bulgarien untersucht, ob die GRU für eine mysteriöse Explosion in einem anderen Arsenal der Firma „EMKO“ von Emilian Gebrew verantwortlich war. Und dabei darf man nicht die versuchte Vergiftung von Alexei Nawalny im August 2020, die Cyberspionage gegen den „Sonnenwind“ 2019 oder den Deutschen Bundestag 2015 vergessen.
Es wird laut um den russischen Geheimdienst. Hier sind sieben Lektionen, die Sie aus ihrem Handeln lernen können:
1) Russische Geheimdienste befinden sich im Krieg
Syrien, Libyen, Zentralasien, der Kaukasus und vor allem die Ukraine – Russland befindet sich im Krieg. Aktionen wie die in Vrbeticach und der Giftanschlag auf den Waffenhändler Gebrew sollten das russische Militärengagement in diesem Konflikt durch verdeckte Spezialoperationen unterstützen. Ihre Ziele waren Unterstützer der militärischen Gegner Russlands. Es ist zu beobachten, dass der russische Dienst seit 2014 keinen Widerstand mehr gegen die schwersten Gewalttaten auf dem Territorium der NATO-Staaten hat. Es geht darum, ein einzelnes ausgewähltes Ziel anzugreifen. Russlands Geheimdienste befinden sich im Krieg, nicht mehr nur in einem Geheimdienstkrieg.
2) Was wir erleben, ist nichts Neues
Die Geheimdienstaktivitäten der letzten Jahre sind nichts Neues, sondern Tradition. Jens F. in Berlin, Ilija Iliev in Sofia, Walter Biot in Rom – sie alle betreiben klassische Spionage. Die einzige Neuigkeit ist die Zahl der Fälle, die in kürzester Zeit der Öffentlichkeit bekannt wurden. Auch andere Aktivitäten des russischen Geheimdienstes sind nicht neu. Desinformationskampagnen sind seit mindestens einem halben Jahrhundert ein klassisches Betätigungsfeld. Erinnern Sie sich an die KGB- und Stasi-Kampagnen in den 1980er Jahren, als das US-Militär AIDS als biologische Waffe entwickelte. Die Tötung von Deserteuren von Geheimdiensten und Doppelagenten gehört zur Tradition der russischen Geheimdienste nicht erst seit Alexander Litwinenko oder Sergej Skripal. Anfang 1925 vergiftete die GRU ihren Deserteur Vladimir Niestierowicz in Mainz. Und selbst die neueste Form der Geheimdienstaktion – Cyberspionage – entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als alter Wein in neuen Fässern: Für Thomas Rid, Cybersecurity-Experte an der Johns Hopkins University, sind Cyber-Intelligence-Aktivitäten klassische Spionage, Sabotage und Propaganda in digitaler Form . In dieses Muster passen Hackerangriffe auf den Bundestag ebenso wie die Beeinflussung des Wahlverlaufs oder kybernetische Desinformationskampagnen in der Coronavirus-Krise. Der neue „Kalte Krieg“ mit der Front in der Ukraine hat diese alte Tradition nur wiederbelebt.
3) Die Arbeitsweise der russischen Geheimdienste wurde aufgedeckt
Veröffentlichte Details offenbaren die Arbeitsweise des russischen Geheimdienstes. Der Wendepunkt ist hier die Botschaft, von der aus GRU und Unternehmen ihre Agenten in Deutschland, Bulgarien und Italien führen. Geld bleibt das Hauptmotiv der Zusammenarbeit, und in Deutschland und Bulgarien haben Agenten auch eine Vergangenheit im sozialistischen Geheimdienst. Wenn es jedoch um Attentate und Sabotage geht, reisen Agenten der inzwischen aufgelösten Spezialeinheit GRU 29155 über ein Drittland von Moskau nach Europa. Zwischenreiserouten, gefälschte Identitäten, bei denen Namen mit echten übereinstimmen und Geburtsdaten nur geringfügig verändert sind, sind dasselbe Relikt des sowjetischen Geheimdienstes wie Privilegien und Belohnungen, Urlaubsprogramme und die Betreuung von enttarnten Agenten und deren Angehörigen. Letzteres wurde beispielsweise bei der Frau des mutmaßlichen Mörders Zemlichan Changoszvili – Vadim „Sokolov“ Krasikov – beobachtet. Und das Waffenarsenal der russischen Geheimdienste – von Giften wie Novichok und Polonium bis hin zu Schusswaffen, Sprengstoff und gefälschten Unfällen – ist heute bekannt.
4) Der menschliche Faktor ist der wichtigste
Russland ist eine wichtige Kraft in der globalen Cyberspionage, aber die jüngsten Geheimdienstoperationen haben gezeigt, wie wichtig der menschliche Faktor ist. Selbst Cyberspionage, wie beim Bundestags-Hack 2015, funktioniert dank menschlichem Versagen, in diesem Fall dem Öffnen von E-Mail-Anhängen. Bei Spionen in Deutschland, Bulgarien und Italien machten „gekaufte“ Informanten auf sich aufmerksam. Gleichzeitig spielte das menschliche Versagen russischer Geheimdienstler eine große Rolle für operative Misserfolge und Lecks: Immer wieder reisten Offiziere der Spezialeinheit GRU 29155 mit denselben Deckblättern und gefälschten Pässen nach Tschechien, Bulgarien und England. Nach Novichoks Angriff auf Skripal im Jahr 2018 warf derselbe Beamte rücksichtslos eine Giftflasche in den Müll und war damit für den späteren Tod der Britin Dawn Sturgess verantwortlich. FSB-Offizier Konstantin Kudriavtsev, der Teil des Teams war, das sich mit der Beseitigung der Spuren der Vergiftung von Novichok durch den Oppositionsaktivisten Alexei Nawalny befasste, wurde von seinen Opfern durch versierte Telefongespräche entlarvt und enthüllte am Telefon die außergewöhnlichen Details des Attentats. Auch andere FSB-Beamte haben während des Einsatzes gegen alle Vorsichtsmaßnahmen verstoßen, darunter auch persönliche Telefone.
5) Staatsgeheimnisse stecken in der Krise
Datenschutz und Privatsphäre stecken im Zeitalter von Social Media, Videoüberwachung und allgegenwärtiger Online-Kommunikation in einer schweren Krise. Aber das gleiche gilt für die dunklen Geheimnisse und Killer-Geheimdienste des Landes. Schuld daran ist die britische Forschungsplattform Bellingcat. Social-Media-Kanäle, Fotos, Videos und veröffentlichte Daten über Kommunikation und Reisen, die im Internet gehandelt werden, haben es Journalisten wie Elliot Higgins und Christo Grozev ermöglicht, Tarnidentitäten, Biografien, Reiserouten und Handygespräche russischer Geheimdienstler zu rekonstruieren. Eine der geheimnisvollsten Spezialeinheiten wird so von nackten Journalisten im Internet entlarvt. Als eines ihrer „Opfer“ räumt FSB-Offizier Konstantin Kudriavtsev ein, die Möglichkeit eines neuen digitalen Journalismus sei für den russischen Geheimdienst ein absolutes Novum.
6) „Zivilnachrichtendienst“
Elliot Higgins, Gründer der Online-Ermittlungsplattform Bellingcat, deren Markenzeichen die Entlarvung russischer Geheimdienste ist, hat seine Organisation als „Zivilnachrichtendienst“ bezeichnet. Higgins und seine Kollegen haben durch ihre Enthüllungen in vielerlei Hinsicht gezeigt, wie ähnlich sich digitaler investigativer Journalismus und Geheimdienstarbeit sind: Beide durchsuchen das Internet nach offenen oder halbvertraulichen Informationen, beide verwenden Kommunikationsdaten, um Anruf- und Profilbewegungen zu rekonstruieren, und beide bezahlen Reporter, um diese Daten zu erhalten. Im digitalen Zeitalter verschwimmt die Grenze zwischen offenen und geheimen Informationen zunehmend, und ungeschützte Geheimdienstmitarbeiter sind im Internet besser geschützt als normale Bürger. Geheimdienstagenten und Journalisten gleichen sich in ihren Methoden der Informationsbeschaffung immer mehr an.
7) Eine Demonstration von Stärke oder ein Zeichen von Schwäche?
Russische Spezialdienste beweisen, dass sie überall in Europa einsatzbereit und einsatzfähig sind. John Sawers, ehemaliger Direktor des britischen Geheimdienstes MI5, schätzt, dass nur 10 Prozent ihrer Aktivitäten entdeckt werden. Aber man darf sich von diesem Kraftakt nicht blenden lassen, denn er ist auch ein deutliches Zeichen von Schwäche. Dies wird nicht nur durch viele, viele Fehler und Auslassungen verursacht. Auch die Tatsache, dass ständig dieselben Beauftragten zur Erfüllung von Aufgaben delegiert werden, beweist auch die Grenzen der personellen Ressourcen des Dienstes. Versuche, über Drittstaaten Informationen über US- und NATO-Pläne unter hohem Kosten- und finanziellem und menschlichem Risiko zu erhalten, beweisen die Schwäche ihres Handelns in Washington oder Brüssel. Darüber hinaus werfen der Verlust an politischem Prestige und massive Sanktionen tiefe Fragen über die Durchführung dieser Geheimdienstoperation auf.
Der Autor des Artikels, Christopher Nehring, ist wissenschaftlicher Direktor des Berliner Spionagemuseums. Er hat viele Bücher über Geheimdienste veröffentlicht.
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