ZKM, digitales Schöpfungsökosystem

Im hinteren Teil eines hochsicheren Raums mit arktischem Klima sind Magnetband-Audiokassetten aus einem anderen Jahrhundert sorgfältig auf Regalen aufgereiht. „Außergewöhnlicher Kunstschatz“, fasst Dorcas Müller zusammen, Leiterin des Labors, das für die Sanierung und Digitalisierung von Bändern im VHS-, Betacam- oder Betamax-Format zuständig ist. Unter den Audioplayern der Vergangenheit fanden wir 200 Kassetten, die der amerikanische Künstler Aldo Tambellini für seine bis nächsten August präsentierte Retrospektive geschickt hatte. Der 85-jährige Videofilmer und Maler des New Yorker Undergrounds der 70er Jahre – lange vor der Beat-Generation – wollte es niemand anderem anvertrauen. Wie bestimmte große Institutionen wie das Centre Pompidou oder das MIT in Boston nutzte er das Wissen des ZKM, um seine Werke zu reinigen und zu transformieren. Manchmal bedeutet es, ganze Videokunstwerke vor dem Verfall zu retten, sogar bestimmte Meisterwerke aus den 1960er Jahren. „Die große Freude ist es, echte Video-Perlen zu entdecken, die noch unbekannt sind, wie zum Beispiel eine Performance-Sequenz von John Lennon und seiner Frau, deren Beschreibung wir noch nicht kennen!“ begeistert der Techniker. Neben dem Engagement für die Renovierung von Werken hat das ZKM zahlreiche Aktivitäten entwickelt, die sich der digitalen Kunst widmen. „Das Atrium, ein charakteristisches architektonisches Merkmal des Gebäudes, ermöglicht die Schaffung von acht Ausstellungsräumen, aber auch einer Reihe von Forschungslabors und Künstleraufführungsorten, einer Bibliothek und einer Schule für öffentliche Kunst und Design »erklärt Margit Rosen, seit 1999 verantwortliche Kuratorin der Ausstellung.

Wiederbelebung der alten Patronenfabrik

Das ZKM liegt in Karlsruhe, gleich hinter der französisch-deutschen Grenze und zeichnet sich durch außergewöhnliche architektonische Raffinesse aus. Auf einer offenen grünen Wiese befindet sich der von den Architekten Schweger & Partner sanierte Glas- und Ziegelbau, ein großes Gebäude mit einer Fläche von 15.000 m2. Die ehemalige Patronenfabrik war 1915 einer der größten und modernsten Industriebauten Deutschlands; Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es als historisches Denkmal eingestuft. In den 1980er Jahren illegal von Künstlern besetzt, wurde das ZKM 1989 zu einer öffentlich-rechtlichen Stiftung, die Kunst und Technologie verknüpfte – damals stark inspiriert vom MIT in Boston –, deren Kosten sich die Regierung und die Stadt teilten, also etwa 15 Millionen Euro pro Jahr. Die Ankunft des künftigen Papstes, des Österreichers Peter Weibel – Künstler, Ausstellungskurator, Medientheoretiker und künstlerischer Berater des Festivals Ars Electronica – im Jahr 1999 gab dem Projekt einen sehr avantgardistischen Impuls. „Wir wollen Pioniere der digitalen Kunst sein, erinnert sich Peter Weibel. Sein Ziel war es jedoch, eine egalitäre Vision der Kunst zu vermitteln, die über die klassischen Lehren der Museen hinausgeht, indem er Literatur, Tanz, Theater, Kino oder Architektur auf eine Ebene stellt.

Tatsächlich ist das Zentrum für Medienkunst und -technologie seit seiner Gründung zu einer Referenz in der digitalen Kunstproduktion geworden, zu einer Zeit, in der dieses Genre häufig auf Festivals präsentiert wird. In einem Zeitraum von fast zwanzig Jahren ließen sich dort mehr als 500 Künstler nieder, um alle Kunstformen zu vereinen, und jedes Jahr fanden dort 350 Workshops statt. „Am schwierigsten ist es, mit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten und gleichzeitig einen intellektuellen Produktionskontext zu schaffen.“, erklärt Margit Rosen. Gleichzeitig hat die Institution eine umfangreiche Sammlung aufgebaut. Er lässt die erste digitale Zeichnung oder das erste Gedicht in Europa am Computer erstellen. Vor allem bietet es der breiten Öffentlichkeit rund zwanzig Ausstellungen pro Jahr, von denen einige die monumentale Atmosphäre des Veranstaltungsortes nutzen. Vom Eingang aus wird die Atmosphäre bestimmt: Auf einem 360-Grad-LED-Panel ermöglicht die digitale und akustische Arbeit von DJ Spooky und Greg Niemeyer ein völliges Eintauchen in die Kreation. Als wir durch das Hauptatrium mit seiner Kathedralenarchitektur gingen, genossen wir es, uns im Labyrinth der Räume zu verlieren, die einer Retrospektive des Werks von Aldo Tambellini gewidmet waren. Er nutzte die phänomenale Höhe des Raumes, um mehrere Meter hohe Videopanels zu installieren. Denn darin liegt die Stärke des ZKM: Ausstellungen für alle Altersgruppen mit sehr breiten Themen – Umweltschutz, Zensur, Demokratie … – zu planen, indem Künstler willkommen geheißen werden, die in neue Technologien investieren möchten.

„Kultur basiert auf Werkzeugen“

Seit 1999 bietet er mit „Net Condition“ einem neuen Universum einen noch nie dagewesenen Platz im Museum: dem des Web. Algorithmen, Klangkunst, die Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft: Die in den letzten Jahren diskutierten Themen spiegeln die zentralen Fragen unserer heutigen Gesellschaft wider, die dauerhaft mit neuen Technologien verbunden sind. Seit dem 2. Juni konzentriert sich die Ausstellung „Hybrid Layers“ auf eine Generation von Künstlern, die sich – durch Installation, Video, Performance oder Skulptur – für die wachsenden Auswirkungen der digitalen Welt interessieren. „Wir stehen an einem Wendepunkt, unterstreicht Peter Wiesel. Wir bewegen uns von einer sprachbasierten Kultur zu einer werkzeugbasierten Kultur. Die digitale Transformation zeigt uns, dass der Code – ob genetisch oder kosmisch – weitaus wichtiger ist als das Medium.“ Im Gegensatz zu dem, was in traditionellen Institutionen praktiziert wird, wird hier oft vorgeschlagen, die Elemente der Schöpfung zu berühren, zu manipulieren und anzueignen, um sie zum Leben zu erwecken. Visionär und unterhaltsam beleuchtet die Dauerausstellung „Gameplay“ die enorme technologische kulturelle Kraft, die seit den 90er Jahren mit Videospielen verbunden ist. Dank mehrerer Plattformen entdecken Besucher die Welt von Pong aus dem Jahr 1972 neu, nämlich Pac-Man (1980) oder Heavy Rain (2010). Das Publikum kann mit riesigen Installationen interagieren, wie zum Beispiel der chinesischen Installation Feng Mengbo, die chinesische Propagandasymbole und westliche Objekte auf einem 16 Meter langen Videopanel kombiniert, oder der amerikanischen Installation Mary Flanagan, die über einen riesigen Joystick verfügt.

Durch die App Art Awards hat das Zentrum neuen Technologien, die über Smartphones entwickelt werden, große künstlerische Impulse gegeben. Die jährlichen Auszeichnungen, die im kommenden Juli zum siebten Mal stattfinden, zeichnen Apps aus, die von Künstlern, Designern und Entwicklern aus der ganzen Welt erstellt wurden (im Jahr 2016 wurden mehr als 100 Apps aus 25 Ländern eingereicht). Im vergangenen Jahr zeichnete ein Sonderpreis für vernetzte Künste ein technologisches Juwel im spirituellen Dienst aus: Sacrificium von der Berlinerin Joanna Dauner stellt das Ritual des Anzündens von Kerzen für religiöse Gottesdienste nach. Über eine Smartphone-App verbinden sich Benutzer direkt mit einem Kerzentisch in einer Kapelle in Bayern und lösen das Anzünden des Dochtes aus, der zwei Stunden später erlischt. Ein weiteres vorgestelltes Projekt: Takemi Watanukis Projekt aus Japan, das sich mit der Schnittstelle der digitalen Welt zur analogen Realität beschäftigt. Seine A/D-Uhr zeigt die Zeit im digitalen Format an, nämlich sechs Ziffern für Stunden, Minuten und Sekunden, was aus 144 analogen Uhren besteht. Eine wunderschöne Zeitreise, wie das Projekt am ZKM, sehr futuristisch und avantgardistisch.

Rafael Frei

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