FIGAROVOX/TRIBUNE – Der Großteil der deutschen politischen Klasse weigert sich, ernsthafte Debatten über seine Außenpolitik zu führen, analysieren Arvid Bell, Dozent an der Harvard University, und Sascha Hach, Forscher am Friedensforschungsinstitut Frankfurt.
Arvid Bell ist Dozent an der Harvard University in den USA und Direktor der Negotiation Task Force am Davis Center for Russian and Eurasian Studies.
Sascha Hach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung Frankfurt (PRIF), lehrt an der Universität der Bundeswehr in München und Gastforscher an der Fondation pour la Recherche Stratégique (FRS) in Paris.
Die Deutschen werden es tun „Auf dem Weg zu einer Form von Verantwortung, die wir noch nicht praktiziert haben“. So äußerte sich der damalige Bundespräsident Herr Gauck kündigte auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 Änderungen in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an. Kurz darauf annektierte Russland die Krim. Neun Jahre und eine umfassende russische Invasion später wurde die angekündigte Präsentation einer nationalen Sicherheitsstrategie für die Münchner Sicherheitskonferenz im jahr 2024, die neuen Ideen zur Rechenschaftspflicht Substanz verleihen könnte, abgesagt. Auch der nationale Sicherheitsrat, der gebildet werden soll, ist unklar.
Die meisten deutschen politischen Eliten weigern sich, sich auf ernsthafte Debatten über außenpolitische Strategien einzulassen, wie dies in traditionell „militanteren“ westlichen Demokratien (USA, Frankreich) der Fall war. Mit der Reaktion Deutschlands auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hatten sich die Achsen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik verschoben: Die Militanz nahm massiv zu (Waffenlieferungen in das ukrainische Kriegsgebiet, militärische Aufrüstung), die strategischen (welche Ziele wollte Deutschland erreichen und in welcher Weise) weniger.
Im Verlauf des Krieges war Deutschland nahezu zwanghaft auf ein Mittel fixiert (schwere Geschütze! Leoparden! Jäger!), politische Ziele und Realitätschecks fehlten.
Arvid Bell und Sasha Hach
Anstatt zunächst ein politisches Ziel festzulegen und dann die notwendigen Mittel zusammenzufassen, fielen diese Mittel und Zwecke in einem „Doppelwums“ zusammen: Deutschland musste Waffen liefern und aufrüsten. Große Militanz in der Außenpolitik, schwache strategische Kompetenz. Diese Verwechslung kann in der Außenpolitik schädlicher sein als „Wandel durch Handel“ mit autoritären Regimen. Was fehlt: die Unterscheidung zwischen Stellung und Interessen, Zwecken und Mitteln; nachdenkliche Diskussion der Möglichkeit einer eigenen Anwendung; Abstufungen in Kurz-, Mittel- und Langzeitphasen; unqualifizierte Diskussion verschiedener Handlungsoptionen.
Je nach Kriegsverlauf war Deutschland geradezu zwanghaft auf ein Mittel fixiert (schwere Geschütze, Leopard-Panzer, Kampfflugzeuge), politische Zielsetzungen und Realitätschecks fehlten. Positionen (wer will was?), Interessen (warum will die andere Seite das?) und Mittel (der beste Weg, unsere Ziele zu erreichen?) kommen in der Debatte zusammen. Moralische Glaubensbekenntnisse, hysterische Wut und emotionale Verzweiflung überwiegen. Sogar diejenigen, die nicht gegen Waffentransfers sind, aber deren Ziele, strategische Integration, Konsequenzen und Ausmaß abschätzen wollen, werden dafür kritisiert, dass sie schwach gegen Russland agieren oder Putins Handlanger sind. Die Soldatenromantik duldet keine strategische Analyse und Diskussion.
Glücklicherweise ist es in den Vereinigten Staaten mit Biden, Blinken und Austin (noch) die strategische, europäisch orientierte amerikanische Regierung, die die Kontrolle hat. Im Heimatland von Clausewitz hingegen wollen wir in einem Krieg zwischen zwei Ländern (einschließlich der Atommächte, die Angriffskriege führen) eine klare Partei ergreifen, indem wir Waffen schicken und Sanktionen verhängen, aber wir weigern uns, über Militär und Politik nachzudenken. zusammen. . Clausewitz‘ empirisch fundierte Analyse des Krieges und seiner tendenziösen Wechselwirkungen, seine Anerkennung der politischen Überlegenheit und ihrer Bedeutung und Fragilität in der Dynamik der Eskalation prägen bis heute das strategische und militärische Denken der amerikanischen Großmächte und gehören ebenfalls zur Basis. für die Ausbildung militärischer Führungskräfte in Frankreich.
Strategische Kompetenz zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie über Widersprüche hinausdenkt und neue Handlungsoptionen generiert.
Arvid Bell und Sasha Hach
Bei der Entwicklung einer eigenen nationalen Sicherheitsstrategie war Deutschland offensichtlich nicht mehr in der Lage, an dieses historische und intellektuelle Erbe anzuknüpfen. Stattdessen dominiert eine Schwarz-Weiß-Rhetorik, die den Kampf zwischen Gut und Böse verkündet und Nuancen beseitigt. Seltsamerweise ähnelt diese Mischung aus deutscher Militanz und simpler Moral der impulsiven und unstrategischen Kreuzfahrerrhetorik von George W. Bush und den amerikanischen Neokonservativen: Weil wir das Böse bekämpfen, ist Skeptizismus Verrat.
Wer der Ukraine helfen will, muss über die aktuelle Kriegsphase hinausblicken. In diesem Bereich haben die USA die Nase vorn: Kürzlich legte die von der amerikanischen Regierung mitfinanzierte RAND Corporation eine Studie vor, in der sie argumentierte, dass ein langwieriger Krieg in der Ukraine nicht im Interesse der USA sei. Auf Basis dieser Studie wurden Handlungsoptionen entwickelt. Im Hinblick auf eine Verhandlungslösung erwähnt der Bericht öffentlich, dass die Aussicht auf eine Aufhebung der westlichen Sanktionen durch die russische Regierung möglicherweise bestehen bleibt, wenn Moskau sich ernsthaft zu einem Friedensabkommen mit Kiew verpflichtet.
Strategische Kompetenz zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie über Widersprüche hinausdenkt und neue Handlungsoptionen generiert. Waffenlieferungen in die Ukraine und ein verstärktes diplomatisches Engagement zugunsten einer Verhandlungslösung schließen sich nicht aus. Sie können auch beides gleichzeitig tun. Und zuvor muss die Bundesrepublik klären, was sie in der Ukraine genau erreichen will. Andernfalls werden die USA früher oder später neue Fakten schaffen, und Kiew, Berlin und Brüssel werden keine andere Wahl haben, als dem Washingtoner „Deal“ zuzustimmen und bei der nächsten Münchner Sicherheitskonferenz eine politische Nachbereitung einzuleiten.
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